Die Pandemie offenbart einen latenten Rassismus europäischer und nordamerikanischer
Prägung. Das geht bis heute mit Defiziten in der klinischen Forschung einher: Ethnizität
ist als Faktor in klinischen Studien unterrepräsentiert - und schwer zu fassen.
In seiner Kurzgeschichte "Die Virusepidemie in Südafrika" beschreibt der Schweizer
Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, wie der weiße Regierungspräsident des Apartheid-Regimes
mit Schnupfen und Fieber erwacht. Kurze Zeit später muss er feststellen, dass seine
Haut infolge der Virusinfektion dunkel geworden ist. Er wird verhaftet und ins Gefängnis
geworfen. Dort befindet sich bereits sein Finanzminister, der infektionsbedingt ebenfalls
zum "schwarzen Weißen" geworden ist. Chaos und Bürgerkrieg brechen aus, da niemand
mehr weiß, wer ein "schwarzer Schwarzer" und wer ein "schwarzer Weißer" sei … Die
Apartheid soll aber unbedingt aufrechterhalten werden. Schließlich werden immer öfter
Ehen zwischen "schwarzen Weißen" und "schwarzen Schwarzen" geschlossen und siehe da:
etwa die Hälfte ihrer Kinder sind wieder weiß. Dabei gilt inzwischen die vom "schwarzen
weißen" Regierungspräsidenten ausgegebene Parole "Schwarz ist unsere Hautfarbe, zu
der wir uns bekennen." Allerdings seien nicht Weiße, die schwarze Weiße seien "wie
wir", sondern "weiße Schwarze" eine neue Gefahr für die "südafrikanische Rasse"...
Beim Menschen sind die größten genetischen Unterschiede innerhalb einer Population
zu finden, nicht zwischen Populationen.
Dürrenmatt forciert auf satirische Weise das Durcheinander von weißen/schwarzen Schwarzen,
von schwarzen/weißen Weißen derart, dass dem Leser schwindlig wird, während er sich
unwillkürlich auflachend dem überraschenden Ende der Geschichte nähert. Ein Lachen,
das einem im Halse stecken bleibt. Nicht nur, weil die Story die Absurdität rassistischen
Denkens vor Augen führt, sondern weil die Verknüpfung der Themen Pandemie und Rassismus
in der vor drei Jahrzehnten verfassten Geschichte geradezu prophetisch auf Ereignisse
des Jahres 2020 verweist.
Latenter Rassismus in der Medizin
Die Covid-19-Pandemie hat einmal mehr den Schleier über latent vorhandenem Rassismus
gelüftet, sei es in den USA, sei es in Südamerika oder sei es angesichts der Art und
Weise, wie die reichen Industrieländer die Covid-19-Impfstoffe global verteilen. Rassismus,
der nicht Halt macht vor dem medizinischen Betrieb und der latent auch die klinische
Forschung betrifft. Diese findet nach wie vor bevorzugt in hellhäutigen Bevölkerungsgruppen
statt, ungeachtet der multiethnischen Bevölkerungszusammensetzung in allen Industrieländern.
Das Dilemma einer unzureichenden Erfassung ethnischer Kategorien wird offenbar.
Das Konzept der Existenz von "Menschenrassen" haben Wissenschaftler längst ad acta
gelegt. Es ist nötig, das an dieser Stelle so klar zu schreiben, denn der Satz dürfte
bis heute noch manchen überraschen. Aus medizinischer Sicht wäre es ja wunderbar,
wenn phänotypische Eigenschaften wie Haut- und Augenfarbe, Schnitt des Gesichts oder
die Haarstruktur auf objektive biologische oder pathogenetische Unterschiede schließen
ließen. Dem ist aber nicht so. Tierzüchter sind zwar in der Lage, bestimmte Populationen
von Hunden, Pferden oder Rindern zu kreieren. Das aber ist nicht das Ergebnis eines
natürlichen, biologischen Prozesses.
"Denkschemata des biologisch begründeten Rassismus wie die Analogie zu Haustierrassen,
haben dazu verführt anzunehmen, mit gleichem Recht von Menschenrassen ("human races")
sprechen zu können", heißt es in der "Jenaer Erklärung", veröffentlicht vom Max-Planck-Institut
für Menschheitsgeschichte Ende 2019. Man habe angenommen, die Ähnlichkeit innerhalb
einer vermeintlichen Menschenrasse sei wesentlich höher als zwischen diesen "Rassen"
und deshalb sei eine Abgrenzung möglich. "Ein bitterer Trugschluss", so die Wissenschaftler:
Beim Menschen seien die größten genetischen Unterschiede innerhalb einer Population
zu finden, nicht zwischen Populationen.
Ethnisch definierte Subgruppen
Hat sich das auch in der klinischen Wissenschaft herumgesprochen? Wird nicht in manchen
Studien mehr oder weniger bewusst eine biologische Ursache von in ethnisch definierten
Subgruppen gefundenen Unterschieden insinuiert? Den Begriff "Rasse" wird man in deutschsprachigen
Publikationen zwar nicht mehr finden, in englischsprachigen Publikationen ist aber
nach wie vor von "race and ethnicity" die Rede. Eine Differenzierung, die sehr wohl
darauf hinweist, dass versucht wird, äußerliche Typologien in Übereinstimmung mit
womöglich vorhandenen "inneren" Typologien zu bringen. Die Frage ist, inwiefern eine
wie auch immer pigmentierte Haut deckungsgleich ist mit einer bestimmten Ethnie. Ein
Begriff, der nicht biologisch definiert ist, sondern, knapp formuliert, eine kulturelle
Identität beschreibt.
Nehmen wir den nach wie vor in medizinischen Publikationen gängigen Begriff "Kaukasier"
(engl.: "caucasian"). Er beschreibt, wissenschaftlich verbrämt, nichts anderes als
Menschen mit heller Haut. Der Terminus wurde vor über 200 Jahren vom deutschen Anthropologen
Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) geprägt. Blumenbach bezeichnete damit europäische
Populationen und grenzte davon Asiaten, Afrikaner, Amerikaner sowie "Malayische" (Südostasien,
Polynesien, Australien) ab. Interessanterweise stellte Blumenbach bereits 1775 in
seiner Dissertation fest, dass diese Unterschiede rein äußerlicher Natur seien. Klare
Grenzen zwischen den Populationen zu ziehen, sei nicht möglich. Bekanntlich sahen
das Rassentheoretiker Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ganz anders. Das
hat Folgen bis heute.
Wo würde wohl US-Vizepräsidentin Kamala Harris ihr Kreuz setzen, wenn sie an einer
Hypertonie-Studie teilnähme?
Es ist üblich, dass sich Teilnehmer an klinischen oder soziologischen Studien, z.
B. in den USA oder in Großbritannien, auf Fragebögen selbst als "Black", "Asian",
"White" oder "Mixed" klassifizieren. Manchmal wird noch differenziert, ob man selbst
oder die Vorfahren aus Indien, Bangladesch oder China stammen, ob Weiße britischer,
irischer oder westeuropäischer Herkunft sind, Schwarze aus Afrika oder aus der Karibik
stammen.
Wählen wir die Kategorie "Schwarz" (Black). Frage: Wo würde US-Vizepräsidentin Kamala
Harris wohl ihr Kreuz machen, wenn sie, sagen wir, an einer Hypertonie-Studie teilnehmen
würde? Ihre Mutter stammt aus dem indischen Madras, ihr Vater aus Jamaika. Sie gilt
als erste Afroamerikanerin auf diesem Posten. Ist sie Afroamerikanerin? Ist sie Afroasiatin?
Und würde das einen Unterschied machen? Die Vorfahren der Afroamerikaner stammen überwiegend
aus südlich der Sahara gelegenen Gebieten Afrikas. Zwar stammen 90 % der Jamaikaner
von afrikanischen Sklaven des 17. und 18. Jahrhunderts ab, "den Afrikaner" gibt es
aber gar nicht. Geradezu paradox sei diese Bezeichnung, erklärt die Max-Planck-Gesellschaft
für Menschheitsgeschichte in ihrer erwähnten Erklärung. Menschen aus Ostafrika seien
näher verwandt mit Menschen von außerhalb Afrikas als mit Menschen aus Südafrika.
Das Gedankenspiel der Teilnahme an einer klinischen Studie ließe sich beliebig fortsetzen,
z. B. mit einem Amerikaner japanischer Herkunft, dessen Großvater nach dem Zweiten
Weltkrieg eingewandert ist.
Auch für Deutschland ist das inzwischen relevant, weil es längst zum Einwanderungsland
geworden ist: Etwa ein Viertel der Bürgerinnen und Bürger haben einen Migrationshintergrund.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Millionen Menschen auf diesem Planeten auf einem
Fragebogen mit mehr oder weniger willkürlich gewählten typologischen Konstrukten unsicher
wären, wo das Kreuz richtig gesetzt wäre. Dennoch nehmen Leser wissenschaftlicher
Originalien statistische Analysen ethnischer Subgruppen als objektive Wahrheiten hin.
Wie die ethnische Gruppierung zustande gekommen ist, dazu finden sich oft keine Angaben.
Selbstverständlich gibt es mehr oder weniger gesicherte Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen
im Auftreten und der Morbidität bestimmter Krankheiten oder beim Ansprechen auf bestimmte
Medikamente. Nur lassen sich diese nicht holzschnittartig anhand von Hautpigmenten
oder geografischer Herkunft charakterisieren.
Nachweis der genetischen Vielfalt
Der Nachweis der genetischen Vielfalt der Menschen hat Rassenkonzepte vollends ad
absurdum geführt. "Beim Menschen besteht der mit Abstand größte Teil der genetischen
Unterschiede nicht zwischen geographischen Populationen, sondern innerhalb solcher
Gruppen", so die Max-Planck-Gesellschaft für Menschheitsgeschichte. Vermeintliche
menschliche Rassen gehen nachweislich nicht auf getrennte Evolutionslinien zurück.
"Es gibt im menschlichen Genom unter den 3,2 Milliarden Basenpaaren keinen einzigen
fixierten Unterschied, der z. B. Afrikaner von Nicht-Afrikanern trennt. Es gibt -
um es explizit zu sagen - somit nicht nur kein einziges Gen, welches 'rassische' Unterschiede
begründet, sondern noch nicht mal ein einziges Basenpaar."
Definition von Rasse und Ethnizität
Während in Deutschland ethnische Minderheiten vor allem mit dem Begriff "Migrant"
beschrieben werden, dominieren in Ländern mit postkolonialer Migrationsgeschichte
die Begriffe "Race" (Rasse) und "Ethnicity" (Ethnizität).
"Rasse" war ursprünglich als ausschließlich biologisch bestimmte Kategorie angelegt,
die sich an äußeren Merkmalen wie Hautfarbe, Körperbau und Haarstruktur orientierte,
aber auch menschliche Verhaltensweisen als biologisch bedingt darstellte. Heute wird
in englischsprachigen Ländern der Begriff "Race" um kulturelle und soziale Merkmale
erweitert. "Race" ist Teil der individuellen Identität, die sich unter anderem aus
physischen Ähnlichkeiten und der Herkunft ergibt. Dementsprechend ordnen sich Bürger
der USA oder des Vereinigten Königreiches selbst unter "White", "Black", "Asian" oder
"Hispanic" ein. Die Indikatoren dafür sind nicht einheitlich. Vor allem aber wird
damit eine biologische und kulturelle Homogenität unterstellt.
"Race" und "Ethnicity" werden zudem häufig synonym verwendet, unter Umständen in der
Formulierung "race-ethnicity". Das deutet darauf hin, dass die Nutzer der Termini
selbst keine trennscharfe Linie zwischen diesen Begriffen ziehen.
Nach Max Weber (1864-1920) beschreibt der Begriff "Ethnizität" eine Gruppe von Menschen
gleicher Abstammung und Kultur. Es gibt Gemeinsamkeiten bezüglich Sprache, Lebensführung,
Traditionen, Werte, Religion. Dies erzeugt ein subjektives Zugehörigkeitsgefühl, unabhängig
von einer biologischen Abstammung. Es handelt sich damit um eine soziale Kategorie.
Wird in Publikationen der Begriff "ethnicity" gebraucht, kann dieser jedoch auch biologische
Differenzen implizieren. Dies erschwert die Operationalisierbarkeit des Begriffs "Ethnie"
in Studien [Bundesgesundheitsbl. 2006;49:853-60].
"Rasse": Die traurige Chronik eines wissenschaftlichen Irrwegs
"Rasse" als Begriff für Menschengruppen ist erstmals schriftlich für die spanische
Reconquista Ende des 15. Jahrhunderts belegt. Er wurde zur Bezeichnung von Menschen
jüdischer oder maurischer "Abstammung" benutzt [Brückmann T et al. Rassifizierte Gene:
Zur Aktualität Biologischer "Rasse"]. Die Naturwissenschaften griffen die Vorstellung
natürlicher Entwicklungsstufen der "Völker" auf, angefangen von sogenannten "Wilden"
hin zur Ausbildung "höherer" Zivilisationen.
Die erste wissenschaftliche Verwendung des Klassifikationsbegriffs "Rasse" wird dem
französischen Arzt François Bernier (1620-1688) zugeschrieben. In seinem Text "Nouvelle
division de la Terre, par les differentes Espèces ou Races d'hommes qui l'habitent"
berichtet er von einer zwölfjährigen Reise und typologisiert die von ihm beobachteten
Menschen. Johann Friedrich Blumenbach (1751-1840) teilte die Menschen in fünf Rassen
ein. Der von ihm geprägte Begriff "Kaukasier" wird bis heute verwendet. Carl von Linné
(1707-1778) unterschied anhand von Hautfarbe, Haaren, Charakter, Temperament, Geist
und Kleidung vier Varietäten. Ebenso sprach und schrieb Immanuel Kant (1724-1804)
"von den verschiedenen Racen der Menschen". In "ihrer größten Vollkommenheit" sei
die "Race der Weißen" zu sehen. Charles Darwin (1809-1882) griff Kants Vorstellungen
auf und äußerte die Überzeugung, dass in "einer künftigen Zeit [...] die zivilisierten
Rassen der Menschheit wohl sicher die wilden Rassen auf der ganzen Erde ausgerottet
und ersetzt haben" würden.
Auf diesen Grundlagen entwickelte sich im 19. Jahrhundert die "Rassen-Anthropologie"
und damit eine "wissenschaftliche" Basis für rassistische Ausbeutungs- und Exklusionspraktiken.
Verbreitet war die Überzeugung, die Erbmasse ganzer Bevölkerungsgruppen könne sich
durch erbliche Tendenzen verbessern, aber auch verschlechtern [Blom P. Der taumelnde
Kontinent]. So meinte der britische Universalgelehrte Francis Galton (1822-1911),
die gesellschaftlichen Erfolge wichtiger Familien, die hohe Beamte, Politiker, Wissenschaftler
und Künstler hervorgebracht hatten, ließe sich nur mit deren inhärenten Eigenschaften
erklären. Dieses Erbmaterial müsse reingehalten werden. Galton war es, der aus dem
griechischen Wort für "wohlgeboren" den Begriff "eu-genisch" formte. In seinem Werk
"Hereditary Genius" beschrieb er eine Rasse von Übermenschen. Eugenik bedeutete nichts
anderes, als durch wohlausgewählte Ehen besonders wertvolle Menschen zu zeugen, die
die Probleme dieser Welt lösen würden.
In Deutschland war es vor allem Ernst Haeckel (1834-1919), dessen populärwissenschaftliche
Werke zu Bestsellern wurden. Der Begründer der Stammesgeschichtsforschung habe "durch
seine vermeintlich wissenschaftliche Anordnung von 'Menschenrassen' in einem 'Stammbaum'
in fataler Weise zu einem angeblich wissenschaftlich begründeten Rassismus beigetragen",
so die Max-Planck-Gesellschaft für Menschheitsgeschichte in ihrer "Jenaer Erklärung"
vom September 2019. Diese Verwissenschaftlichung ist als entscheidende Voraussetzung
für den folgenden Rassenwahn des deutschen Nationalsozialismus zu sehen. Auch nach
1945 wurden eugenische Thesen noch lange Zeit in Parlamenten vertreten, an Universitäten
gelehrt, in Schriften verbreitet, die hohe Auflagen erreichten - und sie sind bis
heute in etlichen Köpfen präsent.