Ein früher Anstieg schwerer Infektionen mit dem Respiratory Syncytial Virus (RSV),
neue Höchststände bei der Coronainzidenz: Die Infektlage im Herbst lässt für den Winter
Schlimmes befürchten. Wir haben Prof. André Gessner vom Universitätsklinikum Regensburg
gefragt, welche Atemwegsinfektionen uns besonders beschäftigen werden.
Abgesehen von SARS-CoV-2-Infektionen gab es im letzten Winter kaum Atemwegsinfekte.
Jetzt wird spekuliert, dass dieser Nebeneffekt der Pandemie eine Kehrseite haben könnte
- zum Beispiel in Form der ungewöhnlich frühen und starken Welle von RSV-Infektionen
bei Kindern. Zu Recht?
Prof. Dr. Dr. André Gessner: Es gibt keine guten systematischen Studien, die die Immunlage
gegen Atemwegserreger vor und nach COVID-19 unter den Bedingungen des Lockdowns und
des Maskentragens verglichen hätten. Es ist also überwiegend spekulativ, ob sich das
Fehlen der natürlichen Boosts, die man sonst in der Erkältungssaison oft unbemerkt
bekommt, auf die spezifische Immunität und andere Immunmechanismen ausgewirkt hat.
Fakt ist: Die Infektionen haben schon relativ früh zugenommen, und das nicht nur bei
den Kindern. Laut Auswertungen des Robert Koch-Instituts (https://grippeweb.rki.de/)
und des Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit zu akuten respiratorischen
Erkrankungen liegen derzeit in Bayern Rhinoviren und das RSV an der Spitze, gefolgt
von Parainfluenza und dann von den saisonalen Coronaviren (Stand 2. November 2021).
Die Infektionsraten sind überdurchschnittlich hoch und steigen jetzt alle weiter an.
Halten Sie eine Verbindung zwischen Pandemiemaßnahmen und saisonalen Atemwegsinfekten
für plausibel?
Gessner: Gegen viele Viren, die saisonal in den Wintermonaten auftreten, besteht eine
Populationsimmunität, das heißt, viele Menschen durchlaufen die Infektionen subklinisch,
weil sie eine Basisimmunität haben. Diese Immunität wird, wie beim Impfen, durch natürliche
Infektionen geboostet. Wenn solche Boosts durch Masken und Isolationsmaßnahmen ein
Jahr lang stark reduziert sind, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Immunität
schwächer wird. Basierend auf bekannten Fakten ist es plausibel anzunehmen, dass das
einen Einfluss hat. Bei Kindern spielt der Wegfall von Infektionen eine besonders
große Rolle, weil sie häufig erstdurchseucht werden. Wenn das ein ganzes Jahr aufgeschoben
und die vulnerable Gruppe von nichtimmunen Kindern in Kindergärten und Schulen größer
wird, kann das stark steigende Fallzahlen erklären, wie wir sie jetzt bei RSV sehen.
Sind Menschen, die die "üblichen" respiratorischen Infekte durchmachen, anfälliger
für eine Infektion mit SARS-CoV-2 bzw. eine schwere COVID-19-Erkrankung?
Gessner: Das ist im Einzelfall schwierig zu sagen. Die Viren können einerseits durch
Epithelvorschädigungen das Eintreten für weitere Erreger, also für Superinfektionen
erleichtern. Andererseits können Virusinfektionen z. B. die Bildung von Interferon
stimulieren, also einem nicht virusspezifischen Immunitäts-erhöhenden Faktor, das
könnte vielleicht einen Schutz vor weiteren Infektionen bringen. Im Prinzip kann es
also in beide Richtungen gehen, von den Superinfektionen wissen wir das sehr genau,
von den gegenteiligen Effekten vor allem aus dem Tiermodell.
Wie steht es mit immunologischen Kreuzreaktionen: Können Infektionen mit saisonalen
Coronaviren für eine Kreuzimmunität gegen SARS-CoV-2 sorgen und umgekehrt?
Gessner: Es gibt eine Reihe von Publikationen, nach denen Proben, die vor der Pandemie
genommen wurden, Antikörper enthalten, die SARS-CoV-2 binden und zum Teil auch neutralisieren;
eine solche Kreuzreaktivität gibt es auch bei T-Zellen. Die Lehrmeinung ist im Moment,
dass es so sein könnte, dass saisonale Coronavirus-Vorinfektionen einen gewissen Immunschutz
gegen SARS-CoV-2 bedingen können.
Zur umgekehrten Frage, ob man nach COVID-19-Impfung oder -Infektion besser die saisonalen
Coronaviren abwehren kann, gibt es nur wenige Studien. Tatsächlich findet sich ein
Mitanstieg der Antikörper gegen die saisonalen Viren, aber kein Zeichen für Protektion.
In einer Studie wurde untersucht, ob monoklonale Antikörper aus SARS-CoV-2-Patienten
saisonale Coronaviren blockieren, und das war nicht der Fall.
Es gibt Hinweise, wonach die Pandemie nicht nur auf die Häufigkeit von Atemwegsinfekten,
sondern auch auf das Erregerspektrum Einfluss nimmt, in einer Studie aus China wird
z. B. über eine Zunahme von Rhinovirusinfektionen berichtet. Was ist davon zu halten?
Gessner: Das haben wir partiell auch bei uns gesehen. Wir hatten überraschend viele,
auch schwerere Verläufe von Rhinovirusinfektionen. Ein Zusammenhang mit der Pandemie
ist vorstellbar. Rhinoviren sind ja nicht umhüllte und daher umweltstabilere Viren
als Corona- oder Influenzaviren. Das Tragen von Masken hilft eventuell besser gegen
Coronavirus-ähnliche empfindliche als gegen robustere Viren, die irgendwo hängen bleiben
und ihre Infektiosität behalten. Die Schutzmaßnahmen helfen nicht gegen alle Viren
gleich gut, weil sie physikalisch unterschiedliche Eigenschaften haben.
Wagen Sie eine Prognose, wie sich die Atemwegsinfektionen im Winter entwickeln werden?
Gessner: Ganz gewagt spekuliert erwarte ich eine weitere Zunahme der saisonalen Atemwegsinfektionen,
eventuell sogar steil. Corona wird auch weiter hochgehen, das sehen wir ja schon.
Influenza würde ich derzeit eher nicht so im Vordergrund sehen. Die Influenzasaison
auf der Südhalbkugel war laut WHO sehr gering. In Deutschland lässt sich die Influenza
noch nicht beurteilen. Bis zur 43. Kalenderwoche hatten wir bundesweit nur 34 gesicherte
Fälle. Es könnte also sein, dass die Influenzasaison nicht so dramatisch wird. Das
heißt aber nicht, dass die Impfung nicht empfohlen werden sollte.
Wie gut die Grippeimpfung schützt, hängt davon ab, wie genau die im Winter dominierenden
Viren vorhergesagt werden. Kann man trotz der fehlenden Zirkulation im letzten Winter
davon ausgehen, dass der aktuelle Impfstoff die relevanten Serotypen abdecken wird?
Gessner: Nach allem, was wir bisher wissen: Ja. Es gab keine Berichte über überraschende
neue Varianten auf der Südhalbkugel und die ersten Fälle wären abgedeckt gewesen.
Das Risiko einer Influenzahäufung ist überschaubar und die Chance, dass der Impfstoff
wirkt, ist gut. Man sollte die Impfung empfehlen, damit nicht doch etwas anbrennt.
Welche weiteren Konsequenzen sollte man aus der Zunahme von Atemwegsinfektionen einschließlich
SARS-CoV-2-Infektionen ziehen?
Gessner: Ich sage zu allen in meiner Familie, meinen Bekannten, im Institut und in
der Klinik: Wir sollten uns weiterhin strikt so verhalten, als seien wir nicht geimpft,
besonders Schutzmasken tragen und Handhygiene und Abstand einhalten. Ich war gerade
bei einer Tagung und ziemlich erschüttert, dass wir mit 200 Leuten in einem Raum eng
zusammensaßen, alle ohne Mundschutz, sich darauf verlassend, dass die meisten wohl
geimpft sind oder vielleicht einen Schnelltest gemacht haben, das halte ich gerade
jetzt für nicht passend. Wir haben wie alle großen Kliniken in Bayern schon jetzt
massive Engpässe. Da werden COVID-19-Intensivpatienten mit Hubschraubern von einer
Klinik zur anderen verlagert. Und es ist Anfang November, die Kurve geht erst hoch.
Wir dürfen jetzt überhaupt nicht nachlassen, auch nicht, wenn wir geimpft sind, unter
dem Motto, dass eine Infektion ja dann nicht mehr so schlimm ist.
Was halten Sie davon, dass die pandemische Notlage nationaler Tragweite abgeschafft
werden soll?
Gessner: Wir sind aus meiner Sicht an einer Schwelle, an der man sich fragen muss,
ob es noch Sinn macht, die Notlage aufzuheben. Dann haben wir drei, vier Wochen vielleicht
weniger Regularien und erkaufen damit noch früher eine schwere Notlage. Das ist kurzsichtig
gesteuert, es weiß doch jeder, dass die Infektionszahlen nicht plötzlich im Dezember
heruntergehen werden. Wir haben schon jetzt eine höhere Coronainzidenz als zur gleichen
Zeit letzten Jahres. Das einzig Gute ist, dass dank der Impfung von zwei Drittel der
Bevölkerung die Hospitalisierungsrate und die Case-Fatality-Rate der SARS-CoV-2-Infektion
niedriger sind. Aber das ist ein schwacher Trost, die Krankenhäuser sind trotzdem
voll und es sterben trotzdem viele Menschen.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Beate Schumacher